Jenseits der Staubwolken

Die Gräber sind schon ausgehoben: Die Regierung wiegelt ab und empfiehlt Veilchenöl. Immer deutlicher zeigt das Virus die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit.

Von Amir Hassan Cheheltan, Teheran

Wenn wir durch den aufgewirbelten Staub auf dem Schlachtfeld gen Horizont schauen, sehen wir nichts als Angst und Sorge, so weit das Auge reicht. Die durch die stümperhafte Führung auf diversen Ebenen offenbar gewordene Inkompetenz der iranischen Regierung, bisher eher als großer Makel wahr-genommen, hat sich mit der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus zu einem furchtbaren Strudel entwickelt.
Am 19. Februar bestätigten offizielle Stellen hierzulande, das Coronavirus habe Iran erreicht. Die Meldung kam allerdings erst, nachdem in der heiligen Stadt Ghom bereits zwei Menschen an der durch das Virus verursachten Lungenkrankheit gestorben waren. Als mit der Zeit auch landesweit Opfer zu beklagen waren, wurden Schulen und Universitäten in einigen Städten für eine Woche geschlossen, während Präsident Rohani am 25. Februar unverhofft ankündigte, in vier Tagen werde das öffentliche Leben im Lande wieder seinen normalen Gang gehen. Er fügte hinzu, es gehöre zu den Intrigen der Feinde Irans, Angst zu schüren, um das Land lahmzulegen. Wenig später bezeichneten andere Verantwortliche das Virus als eine Form der biologischen Kriegsführung, die sie ebenfalls dem externen Feind zuschrieben.

Als die Menschen sich fragten, weshalb das Virus sich in der Region nur in Iran besondersstark verbreitet habe, deuteten viele Finger auf Mahan Air, die Fluggesellschaft, die seit Beginn der Krise über Wochen hin Flüge nach China anbot und vielleicht sogar bis heute anbietet. Nach langem Schweigen reagierte das Unternehmen mit dem Hinweis darauf, dass es über die größte Luftverkehrsflotte des Landes verfüge, für das Gemeinwohl tätig sei und gegen keinerlei Regierungsauflagen verstoßen habe. Ein ausländisches Nachrichten portal zeigte Bilder von Anzeigetafeln an mehreren chinesischen Flughäfen mit Ankunftszeiten von Flügen der Mahan Air, die im Laufe von nur zwei Wochen während der Krise 52 Flüge durchgeführt hat.

Nach Ansicht von Beobachtern hat die Regierung das Auftreten des Coronavirus in Iran aus zwei Gründen mit Verspätung bekanntgegeben: aufgrund des Gedenkmarschs zum alljährlich am 11. Februar begangenen Jahrestag der islamischen Revolution sowie der zehn Tage später, am 21.Februar, abgehaltenen allgemeinen Parlamentswahlen, an denen selbst ohne Corona Warnung in Teheran nur 25 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung der 15-Millionen Stadt teilgenommen haben.

Nach ersten Zeitungsberichten darüber, dass das Virus sich von der heiligen Stadt Ghom aus verbreitet habe, und als Forderungen laut wurden, die Stadt unter Quarantäne zu stellen, entgegnete ein leidenschaftlicher Rohani, die Stadt habe, dank ihrer heiligen Stätten, heilende Wirkung, und machte sich über die Quarantäneforderung lustig. Zugleich sah ein anderer Rohani in der traditionellen Medizin einen Weg, dem Virus zu begegnen. Dass er Zäpfchen aus Veilchenöl empfahl, sorgte in den sozialen Medien für Heiterkeit.

Zeitgleich tauchte damals der stellvertretende Gesundheitsminister an der Seite des Regierungssprechers im Fernsehen auf, um zu verlautbaren, dass Quarantäne ein aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammendes, veraltetes Mittel sei, welches der chinesischen Regierung im Übrigen nichts genützt habe. Tags darauf musste er allerdings per Videobotschaft bekanntgeben, dass er selbst positiv auf Corona getestet worden sei und sich in häusliche Quarantäne begeben habe.

Was wird aus den Tagelöhnern?

Unter Experten rissen die Diskussionen über die Quarantäne betroffener Städte nicht ab. Als die Zahlen infizierter und sterbender Menschen stiegen und man für Teheran eine Quarantäne und Ausgangssperre in Erwägung zog, gab der Regierungssprecher bekannt, die Hauptstadt quarantäne sei eine große Lüge.

Bisher hat die Regierung sich auf die Schließung von Schulen, Universitäten und anderen Versammlungsorten beschränkt, von Quarantäne und Ausgangs sperren aber abgesehen, weil derlei Schritte sie offenkundig vor unüberwindliche Herausforderungen stellen würden. Völlig unklar wäre in einer solchen Situation beispielsweise, wie von der Hand in den Mund lebende Tagelöhner ihren Lebensunterhalt bestreiten sollten. Taxifahrer, Straßenhändler, Kleinunternehmer, Müllsammler wären in einer ähnlichen Lage. Am härtesten betroffen sind ohnehin die Straßenkinder, die auch potentielle Virusüberträger sind. Ein Zustand, der das ganze Ausmaß offizieller Ineffizienz und Inkompetenz offenbart und der Regierung ein verheerendes Zeugnis ausstellt.

In diesem Chaos tritt die unheilige Allianz zwischen den Betreibern des Schwarz- markts, deren führende Köpfe meist mit der Regierung im Bunde sind, und Profiteuren, die auf diesem inoffiziellen Weg Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel anbieten, noch deutlicher zutage als sonst. Während diese medizinischen Hilfsrien oder Supermärkten zu haben sind, bietet der Schwarzmarkt sie zu horrend überhöhten Preisen an.

Eine beträchtliche Zahl an Staatsbür gern allerdings nimmt die Krankheit ebenso wenig ernst, wie es die Regierenden tun. Als der Nutzen einer Schließung religiöser Pilgerstätten als potentieller Infektionsherde zur Sprache kam, tauchten in den sozialen Medien Videos von Menschen auf, die, die Infizierung solcher Orteleugnend, an deren Wänden leckten. Und als kürzlich doch die Schließung der Heiligengräber verfügt wurde, konnte man im Internet verfolgen, wie eine große Menschenmenge einem leidenschaftlichen Präsidenten Rohani lauschte, der die Befolgung medizinischer Ratschläge internationaler Organisationen als eine Form der Blasphemie und als Zionismus bezeichnete und die Wiederöffnung der heiligen Stätten forderte. Andere Videos zeigen Menschen, die Schlösser an Eingängen aufbrechen und in die Pilgerstätten eindringen. Wo nicht von Quarantäne die Rede ist zieht man zumindest Kontrollen in Betracht, wobei fehlendes Vertrauen in die entsprechende Eignung der Regierenden die Sache kompliziert. Im Internet zeigen Kurzfilme motorisierte Polizisten, die die Bevölkerung über Megafon auffordern, sich in ihre Häuser und Wohnungen zurückzuziehen und auch dort zu bleiben. Doch niemand schenkt ihnen sonderlich große Beachtung. In der Regel halten sich die meisten Menschen nicht an offizielle Verbote. Kaum waren die Schulschließungen verfügt, bildeten sich Autoschlangen und kilometerlange Staus auf den Ausfallstraßen und Autobahnen in Richtung Norden, weil die Menschen der Hauptstadtgen Kaspisches Meer entfliehen wollten.
Im Internet sieht man, wie Städter im Norden Straßensperren errichten und mit den ungebetenen Gästen aus Irans Süden in Streit geraten. Andere Videos zeigen Menschen in anderen Gegenden des Landes, die in dichtem Gedränge ihre Besorgungen für das am 20. März beginnende iranische Neujahrsfest Nowruz machten.
Den Zenit überschritten?

Dass die Menschen auf die derzeit bestehende Gefahr nicht gerade hektisch reagieren, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie gegen Katastrophen und Gewalt buchstäblich geimpft wurden. Ein acht Jahre währender katastrophaler Krieg gegen das Nachbarland Irak in den achtziger Jahren, Massenhinrichtungen Tausender Menschen im selben Jahrzehnt sowie die blutige Niederschlagung aller Protestbewegungen der letzten Jahre haben die Bevölkerung vermutlich gegen jede Art von Gewalt, einschließlich der von Krankheiten ausgehenden, immun gemacht.
Vor einigen Tagen erläuterte ein Arzt in einem Interview, dass,sofern die Bevölkerung und die offiziellen Entscheidungsträger die Krankheit weiterhin so handhaben wie bisher, uns das Virus noch bis September begleiten werde, wobei dann, mit Beginn der kalten Jahreszeit ein erneuter Anstieg von Krankheitsfällen nicht auszuschließen sei. Er schloss sein Interview, indem er Zuflucht zu Gott dem Herrn nahm. Tags darauf jedoch, während die Vereinigten Staaten, Kanada und europäische Staaten strengere Maßnah- men anordneten, verkündete Präsident Rohani: „Wir haben den Zenit der Krankheit überschritten.“ Unterdessen erzählen Statistiken eine andere Geschichte; sie nennen steigende Zahlen an Infizierten und Toten. Rohani gab auch die Parole fürs neue Jahr aus: „Bleibt zu Hause!“
In den ersten Tagen nach Bekanntwerden der Krise, als die Opferzahlen nur zweistellig waren, erklärte der Parlamentsabgeordnete der Stadt Ghom: „Allein in Ghom hat das Coronavirus mehr Opfer gefordert, als die Regierung für das gesamte Land beziffert. “ Ärzte bestätigten, dass in Krankenhäusern Menschen gestorben seien, die alle Anzeichen von Covid-19 auf- wiesen. Da man sie jedoch nicht auf das Virus getestet habe, seien andere Ursachen für ihren Tod verantwortlich gemacht worden. Im Internet sieht man Bilder von Friedhöfen, auf denen in Erwartung zahlreicher Todesopfer bereits Gräber ausgehoben wurden. Auch Satellitenbilder zeigen, dass man landesweit bereits in vielen Städten zahllose Gräber vorbereitet hat. Die Verantwortlichen sind mit der Lage hoffnungslos überfordert, so wie sie häufig mit Problemen konfrontiert sind, die Zweifel an ihrer Kompetenz rechtfertigen.
Erst wenn der Staub sich gelegt haben wird, wird sich uns das wahre Ausmaß der Katastrophe offenbaren.

Aus dem Persischen übersetzt von
Jutta Himmelreich.